Werden wir zu gläsernen
Patienten und Patientinnen?

Jeder Patient und jede Patientin ist ein Einzelfall. Und für jeden soll das beste Medikament gefunden werden. Dazu kann die Personalisierte Medizin mit individuell abgestimmten Behandlungen und Arzneimitteln beitragen. Damit das funktioniert, müssen Gesundheitsdaten systematisch erfasst und verwertet werden. Droht nun der gläserne Patient und die gläserne Patientin?

Auch wer heute gesund ist, kann morgen schwer erkranken. Dann braucht er oder sie die Hilfe, die in diesem konkreten Fall am besten wirkt und möglichst geringe Nebenwirkungen hat. Hierfür haben Ärzte und Ärztinnen schon immer versucht, ihre Entscheidung über die bestmögliche Therapie für einen bestimmten Patienten oder Patientin nicht nur auf die Krankheitsdiagnose zu gründen, sondern auch auf Charakteristika des Patienten bzw. der Patientin – etwa das Alter, die physische Konstitution und ob noch ein Kinderwunsch besteht – und gegebenenfalls auf eine Familienanamnese.

In Zukunft wird sich diese Individualisierung noch verstärken. Neu sind dabei die Anwendung und die Möglichkeiten der modernen Diagnostik, auch genetische, molekulare und zelluläre Besonderheiten eines Menschen zu erfassen und daraus Schlüsse zu ziehen, welche Therapien oder Arzneimittel in Betracht kommen. Das ist es, was die Personalisierte Medizin der bisherigen Medizin hinzufügt. Mit ihr soll standardmäßiges Vorgehen abgelöst und die Behandlungen individuell auf die Einzelperson zugeschnitten werden. Bildlich gesprochen, ersetzt der Maßanzug die Gießkanne. Ziel ist dabei, die beste Therapie für den einzelnen Patienten oder Patientin zu finden ­– oder auch auf eine belastende Therapie zu verzichten, wenn sie in diesem Einzelfall nicht optimal hilft.

Personalisiert behandeln, heißt präziser behandeln

Vor allem bei Krebserkrankungen mehren sich die Erfolge individuell abgestimmter Behandlungen. Gegen Krebs zählen sie bereits zur täglichen Routine. Immerhin über 93 Medikamente werden bereits in der Personalisierten Medizin eingesetzt. Eine Grundvoraussetzung dafür ist die moderne Diagnostik – einschließlich der Gendiagnostik. Vor allem im Kampf gegen Krebs werden die Mutationen selbst, aber auch die Stoffwechseleigenschaften der Patienten und Patientinnen genetisch analysiert.

3 Fragen an: Dr. Martin Walger, Geschäftsführer Verband der Diagnostica-Industrie e. V. (VDGH)

  • Wenn heute individuelle Patientenmerkmale bestimmt werden, dann sprechen wir nicht mehr allein von Alter, Gewicht und Vorerkrankung. Genetische, molekulare und zelluläre Besonderheiten der Patientinnen und Patienten kommen hinzu. Es ist der Verdienst moderner Labordiagnostik, dass auch diese Patienteneigenschaften immer genauer erkennbar und vor allen Dingen messbar geworden sind. Aussagekräftige Biomarker zu identifizieren und zu validieren ist wesentlicher Taktgeber für eine stärkere Nutzung der Personalisierten Medizin. Der Türöffner im Hintergrund ist immer die gezielte Labordiagnostik, auch wenn viele zuerst an pharmazeutischen Fortschritt und Arzneimittelinnovationen denken. Sie ermöglicht physiologische und pathologische Zustände besser zu verstehen. 

  • Am weitesten verbreitet ist die Personalisierte Medizin derzeit in der Onkologie. Trotz gleicher Krebsart sind die speziellen Eigenschaften des Tumors von Patient zu Patient verschieden. Die Unterschiede zeigen Biomarker: Prognostische Biomarker liefern Hinweise auf den zu erwartenden individuellen Krankheitsverlauf, prädiktive Marker ermitteln die krebsauslösende Mutation und ermöglichen Aussagen über die Wahrscheinlichkeit, mit der eine bestimmte Therapie bei einem Patienten wirksam ist. Wie schnell wird ein Medikament verstoffwechselt? Muss eine Umstellung auf andere Medikamente erfolgen? Welche Rückfallwahrscheinlichkeit besteht bei Krebserkrankungen? Gibt es besondere Risiken bei genetischer Vorbelastung? Auf diese Fragen kann die Diagnostik anhand der Biomarker patientenbezogene Antworten liefern.

  • Das Ziel ist die passgenaue Therapie mit möglichst wenig Nebenwirkungen und hoher Aussicht auf Erfolg. Bildlich gesprochen: Wir ersetzen das therapeutische „one size fits all“ durch „Konfektionsgrößen“ und wollen hin zum therapeutischen „Maßanzug“. Dieses Prinzip gilt auch für die personalisierte Früherkennung von Krankheiten, aktuell einem Schwerpunkt in der Krebsforschung. Auch bei chronischen Erkrankungen wie Rheuma oder Diabetes wird der Nutzen zunehmend erkennbar.  Arzneimittel für neuartige Therapien (Advanced Therapy Medicinal Products – ATMP) stellen eine besondere Form der Personalisierten Medizin dar. Sie umfassen Anwendungen, die auf Genen, Geweben oder Zellen beruhen und tatsächlich auf das einzelne Individuum zugeschnitten sind. Auch die Entwicklung und die Anwendung von ATMP in der medizinischen Versorgung erfordern eine spezielle Labortechnologie.

„Big Data“ als große Chance

Es mag zunächst paradox klingen: Obwohl es in der Personalisierten Medizin um den Einzelfall geht, sind große Datenmengen vieler Patienten und Patientinnen für ihre Weiterentwicklung äußerst wichtig. Denn nur aus Daten über Vorerkrankungen, Alter und Geschlecht oder Gen- oder Zelleigenschaften lassen sich Vergleichs- und Referenzwerte bilden.

„Big Data“ kann auch die Erforschung schwerwiegender Krankheiten und neuer Arzneimittel sowie die Weiterentwicklung bekannter Medikamente in Zukunft signifikant voranbringen – auch weil sich Forschungsthesen und -modelle leichter prüfen und klinische Studien beschleunigen lassen.

Ohne Datenschutz geht es nicht

Dazu müssen Ärztinnen und Ärzte und die pharmazeutische Industrie allerdings Zugang zu diesen Patienten- und Behandlungsdaten haben. Das sorgt bei vielen Menschen für Unbehagen: Wie werden meine Daten gespeichert, wer kann sie einsehen? Wofür werden sie verwendet? Diese Fragen sind absolut nachvollziehbar. Auch die pharmazeutische Industrie befürwortet diesbezüglich klare und eindeutige Regelungen: So sollten die Unternehmen nur auf anonymisierte oder pseudonymisierte Informationen in sehr großen Fallzahlen zugreifen können, die zudem durch einen Treuhänder bereitgestellt und nicht von einzelnen pharmazeutischen Unternehmen verwaltet werden sollten.

Zwei Bausteine sind für ein hohes Sicherheitslevel unentbehrlich:
• Erstens: Sämtliche Personen- und Gesundheitsdaten werden vor einer Weiterverwendung für Forschungszwecke anonymisiert. Einzelpersonen sind so nicht identifizierbar.
• Zweitens: Der Zugang zum Datenpool ist streng reglementiert und durch stets aktuelle, leistungsfähige IT-Sicherheitsmaßnahmen geschützt.

Unter diesen Voraussetzungen kann ein klug und wirksam gestalteter Datenschutz Forschung in der Pharmabranche ermöglichen, Vertrauen in der Bevölkerung aufbauen und so nicht zuletzt den medizinischen Fortschritt stärken.

Die Digitalisierung hilft dabei, Herausforderungen im Gesundheitssystem zu begegnen. Welche halten Sie für die drei wichtigsten?

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